versuchte mit seiner letzten Puste, die beiden zurückzupfeifen. Die Trillerpfeifen waren einfach eklig, das Geräusch ging durch Mark Bein. Sie waren der Verzweiflung nahe: „Welches Stockwerk war es denn noch und welche Stubennummer hatten wir eigentlich?“ Von diesem Menschenstrudel wurden die beiden Soldaten in Zivil wieder in eine andere Richtung getrieben als sie wollten. So suchten sie noch eine Weile verzweifelt ihre Stube, um das kleine Gepäck loszuwerden. Dann wollten sie schnell in die Kleiderkammer, um die Erstausstattung an Uniform und Ausrüstung zu empfangen. Sie liefen kopflos durch die Flure, eilten Treppen rauf und wieder runter und dabei verloren sie sich für diesen Tag aus den Augen. Irgendwo oben angekommen brüllte ein Kapo (in der Soldatensprache ein Unteroffizier): „Was wollt ihr Zivilisten denn noch hier, zur Kleiderkammer geht es nach ganz unten. Haltet keine Maulaffen feil, verpisst euch ihr Panzerleichen und das Ganze ziemlich zügig!“ Unten angekommen schrie ein Kapo mit auffällig krummen Beinen: „He, sie da mit dem lila Tangohemd, zur Kleiderkammer ein Stock höher!“ Günther mit seinem lila Freizeithemd war wieder an der Eingangstür angelangt wurde gleich wieder angeschrien: „Sie sollen doch nach oben, los marsch, aber schnell!“ Also lief Günther wieder hinauf. Oben angekommen fragte ihn ein uralter Kapo grob: “Welche Stube?“ „Ja, welche Stube, fragnse doch!“ „Ich frage doch.“ „Nu wernse mal nicht pampig Jüngelchen. Runter sach ich – frangse unten noch ma nach!“ „Wen denn?“ „Wen denn, das müssense selba wissen!“ Günther lief also wieder die Treppen hinunter und kämpfte gegen die graue Masse von Rekruten an, die in die entgegengesetzte Richtung schwappte. Und überall wimmelte es an Ausbildern, die nur ein Ziel hatte, die Neuen mal richtig aufzumischen, sie weich zu klopfen. Sie brüllten beispielsweise: „Beim Treppenlaufen müssen Sie waagerecht in der Luft liegen!“ „Mein Opa hat ein Holzbein und der ist schneller als sie Pfeife!“ Er holte noch einmal aus: „Ihnen machen wir noch Beine!“ Günther dachte: “So ein Blödsinn, ich habe doch schon Beine!“ „Sie sollten mal abnehmen, bewegen Sie ihren dicken Arsch etwas schneller!“ Günther schaute ihn verdattert an und setzte zur Frage an: “Ich such…“ „Mann Sie geistiger Tiefflieger, sie müssen doch wissen, wo Sie hinwollen!“ „Los, jetzt aber Tempo, und zack, zack, ich will nur noch ihre Hacken sehen. Ich glaube, mein Schwein pfeift!“
Mit ihren simplen Methode hatten sie uns zunächst einmal gewaltig erschreckt. Aber sehr lange hielt unsere Schockstarre nicht an. Nach zwei Wochen hatten wir schon einen einigermaßen guten Durchblick und allmählich trauten wir uns aus der passiven Haltung heraus und wurden aktiv, wenn es denn sein musste. Sie hatten unser Ego angeknackst und wir fühlten uns von Mal zu Mal wohler, wenn wir es ihnen heimzahlen konnten, ohne dass sie es merkten. Nicht durch offene Revolution, sondern eher durch überlegene Intelligenz. Wenn die Kapos eine Gemeinheit gegen einen von uns angeordnet hat, drehten wir die Dinge so, dass die Typen glücklich einschlafen konnten, mit der Gewissheit: „Dem habe ich es mal wieder richtig gegeben!“ Zum besseren Verständnis erzähle ich später noch die Geschichte von Walter Koschinski. Ein sehr treffendes Beispiel. In den letzten 3 Wochen waren wir perfekt und die Geier griffen nur noch die Wehrpflichtigen an, die geistig nicht so ganz beweglich waren. Die meisten davon waren aber auch Schmerz-resistent und hielten die Widerwärtigkeit gleichgültig aus. Einer sagte einmal zu mir: "Es ist wie es ist, und Punkt!"
Günther hatte immer noch sein lilafarbenes Zivilhemd an und es war inzwischen völlig durchnässt. Dadurch hatte es eine tiefdunkle Tönung angenommen und passte nun aber farblich viel besser zu seiner Cordhose. Übrigens: Dieses Hemd liegt als Erinnerungsstück noch heute in seinem Kleiderschrank. So wie bei Bruce Low
das Pferdehalfter
an der Wand hing.
Damit es uns nie langweilig wurde, sorgten die Kapos mit allerlei Kurzweil für abwechslungsreiche Stunden. Zum Beispiel den Zugführer vom 3. Zug Oberfeldwebel Egbert Gruschel: „Wer kann Schreibmaschine schreiben?“ Wahrheitsgetreu meldete sich Günther in der Hoffnung irgendwelche Berichte tippen zu müssen, um dafür einige Stunden dem Drill aus dem Wege zu gehen. Aber die Antwort fiel anders aus als erwartet. „Prima Voraussetzungen Mertens, dann dürfen Sie heute Abend meine Stiefel putzen!“ Es war, als wären wir auf einem anderen Planeten gelandet: Alle Menschen tragen oliv und sehen gleich aus. Ausschlafen, in Ruhe essen, diskutieren – war nicht. Überall dieses Geschrei: Befehl war Befehl! Wir erlebten eine große Umstellung gegenüber unserem zivilen Leben. Sich beschweren? Der Weg war gut eingerichtet. Schriftliche Eingaben durften nur an die nächsten Vorgesetzten gerichtet werden und waren somit etwas für die Mülltonne. Das war so, als ob wir uns bei dem Hund beschweren mussten, der uns gebissen hat. Die Gefahr war dann groß, ein zweites Mal gebissen zu werden oder auch noch öfter.