Heinz-Dieter Gerstenköper der "Warsteiner"

Blücher-Kaserne Hemer


Die Unterkunft der Ausbildungskompanie 3/7 
Die Kasernenanlage. Rechts der Hoppenberg


Viel mehr als meine gleichaltrigen Freunde, hatte ich mich mit der deutschen Vergangenheit beschäftigt, über Krieg, Vertreibung und dem Holocaust gelesen. Mein Entschluss stand fest, wenn ich es eben verhindern kann, ziehe ich keine Uniform an und nehme keine Waffe in die Hand, die ausschließlich dafür gebaut wurde, Menschen zu ermorden. Viel früher als erwartet, kam nach der Musterung im Mai 1961 bereits die Einberufung zum ersten Oktober 1961. Also sechs Monate Zeit gab mir die damalige Regierung, die immer noch durchsetzt war von ehemaligen Schergen wie Richter und hochrangigen Beamten und Politiker, die geholfen haben, dass ein geisteskranker und menschenverachtender österreichischer Postkartenmaler die absolute Macht in unserem Deutschland übernahm. Das 60 Millionen Menschen starben, wurde von 
ihnen so hingenommen als ob jemand beim Kartenspiel verloren. Ich saß zusammen in meinem Büro mit einem SS-Offizier, einem ehemaligen Machtmenschen, dessen Aufgabe nun darin bestand, Schrauben für die Produktion zu bestellen und nun ein kleines Licht in der Masse war. Sein späterer Kollege schrieb 1943 in den Warsteiner-Heimatgrüßen von der russischen Front Lobeshymnen über seinen Führer. Aber heute weiß ich, warum man mir das Wort abschnitt, wenn ich im Büro über die Nazizeit sprechen wollte. Es war den Kollegen sehr unangenehm und meist wurden sie mit den Worten abgewürgt: „Was willst du junger Schnösel eigentlich, du hast doch keine Ahnung!“ Sie hatten insoweit recht, dass ich zu jung war, die Zeit bewusst geistig aufzunehmen, aber ich konnte lesen und hatte der Führungsebene Geld mir Bücher zu kaufen.
02. Oktober 1961 Unna/Hemer: Es herrschte eine diffuse Wetterlage, 19 Grad. Totale Windstille bei einer relativen Luftfeuchtigkeit von 89 %, der Himmel war größtenteils klar mit zeitweiser leichter Bewölkung. Die Menschen schwitzten schon bei absoluter Regungslosigkeit, vor allen Dingen auch deshalb, weil sie sich falsch angezogen hatten. Tage vorher war es lausig kalt und die meisten Bürger wollten auf Nummer sicher gehen. Soweit es möglich war, verhielt man sich passiv und meideten jede geringe Betätigung. 

Wir hatten uns früh auf den Weg gemacht. Von Warstein nach Hemer waren es etwa 65 Kilometer. Bei den damaligen Straßenverhältnissen und den 19 PS meines Autos, sollten wir in 2 Stunden in an der Blücher-Kaserne sein. Wir waren zu viert mit meinem kleinen Fiat 600 – AR-AH11 unterwegs. Mein Vater fuhr und auf dem Beifahrersitz saß meine Mutter. Auf den Hintersitzen hatte ich es mir mit meiner Jugendfreundin Bärbel gemütlich gemacht. Am Ortsschild Hemer wurde es mir etwas mulmig. Zum ersten Mal auf lange Zeit weg von zu Hause, weg von den Eltern, von der Arbeit und den Freunden. Aber man sagte, es sollte nicht so schlimm sein bei der Bundeswehr, kein Vergleich mit der alten Wehrmacht. Als wir in die letzte Straße zur Kaserne einbogen, sah ich von weitem schon das Wachhäuschen und viel Gedränge. Mein Vater stoppte das Auto unmittelbar vor dem großen Stahltor. In diesem Moment, beim Anblick  der bewaffneten Soldaten,
fing meine  bitterlich an zu weinen. Zu nah waren noch die Erinnerungen an den zweiten und an den Tag, als sie ihren Mann bis ans Kasernentor brachte und lange Zeit nicht wusste, ob er noch lebte. Ich nahm sie in den Arm und versprach ihr, dass ich auf mich aufpassen würde. In den ersten Monaten meiner Abwesenheit von zu Hause schrieb ich ihr beinahe jede Woche einen Brief oder eine Postkarte. Meine Freundin Bärbel hat mich nicht ein einziges Mal besucht, sie schrieb noch zwei kurze und belanglose Briefe und dann war Funkstille. Ich sah sie 1972 in Meschede auf dem Postamt, mit dabei hatte sie zwei Kinder, es waren ihre. 

Nun marschierte ich mit sechs Leidensgenossen von der Wache zum Kompaniegebäude. Die Begrüßung am Wachhäuschen war eher unterkühlt. Kein Wunder bei dem Gedrängel, denn nicht nur die Wehrpflichtigen unserer Ausbildungskompanie 3/7 rückte an, sondern auch noch weiteren Einheiten, die hier stationiert waren. Na ja, in meiner Kompanie, so glaubte ich, wird es wohl ruhiger und freundlicher zugehen. Ein Unteroffizier, den ich später nie wieder getroffen habe, stand vor dem Kompaniegebäude mit einem Schreibbrett und einem Bleistift in der Hand. Ich ging wortlos, ohne ihn zu beachten oder ihn zu begrüßen vorbei. Er drückte sein Missfallen aus, indem er hinter mir herrief: "Zu mir, Sie Arsch!" Ich war begeistert über diese freundliche Aufforderung. 

Im Kompaniegebäude herrschte ein fürchterliches Gedränge und Geschrei. Die Kapos hatten soeben ihre Tischreihe abgebaut, an denen sie Neuankömmlinge mit ihren Listen verglichen und abgehakt hatten. Auf diesen Augenblick hatten sie gewartet. Die wilde Hatz begann. Sie wetzten wie wilde Straßenköter in den Fluren hin und her, sie blafften die neuen Wehrpflichtigen an und egal was die Frischlinge auch machten, es war immer falsch. Sie sorgten für ein chaotisches Durcheinander und machten uns klar, dass wir zu blöde sind ihre Anweisungen zu verstehen. Keiner wusste mehr, wo er war und wo er hinwollte. Mir wurde im ersten Stock die Stube 216 zugewiesen, mit sechs Betten, sechs Spinden, einem Tisch und sechs Stühlen. 

Mein Bett war unten links hinter der Stubentür. Nach und nach trudelten die künftigen Stubenkameraden ein: Peter Grabs und Günther Eickmann kamen 10 Minuten nach mir und Leo Hoffmann, Kalle Beerwerth und Werner Döring fanden sich kurz danach auch ein. Nun waren wir komplett in der Stube 216. Ob sich jemand vorher darüber Gedanken gemacht hat, uns so zusammenzulegen? Ich glaube eher nicht.  Aber in den drei Monaten entwickelte sich eine sehr enge Kameradschaft

 
In der Nebenstube 217 fanden sich für drei Monate zusammen: Waldemar HauserWalter Koschinski, Walter Rohmann, Ernst Schlenker, Manfred Ortmann und Bernd Lindner. Die 12 Soldaten bildeten die 5. Gruppe unter Leitung von Stabsunteroffizier Heinrichs und Hilfsausbilder Gefreiter Fritz, der 7. Panzergrenadierdivision, die später in die 7. Panzerdivision umgewandelt wurde.
 

In der Kleiderkammer hatten Zivilangestellte das Sagen und die arbeiteten alles gelassen und immer schön der Reihe nach ab. Alle samt waren sie Genies. Sie scannten Ankömmling mit bloßem Auge kurz ab und wussten, ohne nachzumessen oder nachzufragen, welche Größen die einzelnen künftigen Soldaten hatte. Egal, ob es die Anzuggröße, die Hutweiten oder die Stiefelgrößen waren. Beschwerden wie „Die ist mir zu groß“ oder „Das ist mir zu klein“ hörten sie wohl, aber ihre Gehirne waren für den Empfang derartiger Nachfragen nicht eingerichtet. So geschah es, dass ich eine Ausgehmütze in der Größe 62 erhielt, obwohl ich nur eine Hutweite von 59 cm hatte und mein Stubenkamerad Günther Eickmann dagegen hatte eine Hutweite von 62 cm und erhielt eine in 59 cm. Auf der Stube konnten wir uns vor Lachen kaum halten Günther mit meiner kleinen Mütze auf seinem großen Kopf sah aus wie ein besoffener Ulan und ich stand mit der großen Mütze im Dunkeln. Also begann der Tausch erst einmal auf unserer Stube und in den nächsten Tagen dann auch innerhalb unserer Gruppe. Irgendwann hatte jeder die Uniform, die ihm passte. Am frühen Nachmittag beruhigte sich die turbulente Szene etwas. Der Kompaniechef hatte angekündigt, dass er uns vor dem Abendessen noch offiziell begrüßen will und dafür war nachmittags Antreten in Uniform befohlen. Zum ersten Mal antreten war so eine Sache. Als wir erst einmal in Gruppen und Zügen geordnet standen, fingen die Kapos an uns der Größe nachzusortieren. Ich war im zweiten Zug. Rechts von mir stand Peter Grabs und links Günther Eickmann. Alle drei auf den Millimeter genau 1,80 m groß. Wir lagen alle drei mitten in Blickrichtung des Kompaniechefs und dem Spieß. Je nach Tagesform hing einer von uns auch mal etwas durch und der andere hatte das Kreuz einmal auf Spannung und schon waren wir nicht mehr gleich groß. Das Palaver begann. „Welcher Idiot hat euch den so hingestellt?“ Mit unserer Antwort hielten wir uns zurück, denn oft war der Fragende selbst der Idiot. Sie tauschten unsere Positionen eigenhändig um, griffen uns an die Ärmel und zogenund schoben uns wie hin und her. 

Die nächsten drei Monate lief das beinahe täglich so ab.  Um diese Zeit hatte der Wehrpflichtige Günther Mertens ein ganz anderes Problem. In der Mittagszeit stand er an der Bushaltestelle Wasserstraße, der Iserlohner-Kreisbahn in Fahrtrichtung Hemer. Obwohl Günther am liebsten nur kurzärmelige olivfarbene Hemden mit einer olivfarbenen Cordhose aus elastischem Material trug, hatte er für diesen besonderen Tag auch ganz besonders herausgeputzt. Im Sommer erwarb er bei SCHNUECKEL, an der Massener Straße ein neues lilafarbenen Hemd. Aber auch nur deshalb, weil der Verkäufer penetrant auf eine Typänderung drängte. So blieb das Hemd erst einmal den Sommer über im Kleiderschrank. Eigentlich war er keine Freund von besonders auffälligen Kleidungsstücken. Bequem und dezent, so liebte er es. Nach einem harten Ringen mit sich selbst wagte er es letztendlich mit der olivfarbene Cordhose und dem lilafarbenen Hemd die Reise antreten. Mit kleinem Gepäck in der rechten Hand und mit einer brennenden Ernte 23 in der Linken, wartete er auf seinen Bus.

Endlich fuhr der Bus mit quietschenden Bremsen vor. Der Fahrer war sehr spät dran und so holte er aus dem in die Jahre gekommenen Vehikel alles raus, was noch was der alte Motor schaffte. Er gab zügig Gas und knallte die Gänge rein, dass es nur so krachte. So ging es der Kaserne und einem neuen unbekannten Leben entgegen. Günther hatte auf dem freien Platz in einer Zweierreihe Platz genommen. Sein Nebenmann schaute ihn fragend an. Sie stellten sich vor: „Mein Name ist Manfred Lülf. ich komme aus Königsborn und muss zur Bundeswehr nach Hemer." Die beiden Leidensgenossen gingen sehr freundlich miteinander um, vielleicht deshalb, weil sie das gleiche Schicksal teilten. Sie fühlten sich beide unwohl, weil sie keine Ahnung davon hatten, was auf sie zu kommen wird. Günther sagte nach einem tiefen Seufzer zu seinem neuen Bekannten: „Bin gespannt, was das für ein Verein ist in Hemer ist“ Lülf erwiderte: „Ich auch!“

Achsenbruch am Bismarckturm...
Und dann passierte es. Sie hatten den Scheitelpunkt auf dem Haarstrang Wilhelmshöhe erreicht und freuten sich darauf, dass es nun flotter bergab gehen würde, als es plötzlich einen harten metallischen Krach unter dem Bus gab und dieser abrupt mit dem Hinterteil absackte und polternd über den Asphalt rumpelte. Der Motor heulte kurz auf, starb dann mit einem Knall aus dem Auspuff ab. Eine etwas dickliche Frau war vom Sitz gerutscht und saß nun im Mittelgang. 
auf dem Boden Günther und Manfred, ganz Kavaliere, hievten sie wieder in ihren Sitz. Erschrocken und fragend sahen sich die Fahrgäste an und für einen kurzen Augenblick herrschte lautlose Stille. Die Fahrgäste schauten sich fragend an aber dann brach schlagartig ein allgemeines Geplapper aus. Jeder hatte eine Vermutung, was denn da wohl passiert sein kann. Motor verloren, Räder abgebrochen, über einen offenen Kanaldeckel gefahren usw...
Schaffner und Fahrer stiegen eiligst aus, gestikulierten neben der Öllache wild mit ihren Armen und schnauzten sich gegenseitig an. Den Fahrgästen saß der Schreck noch in den Gliedern, aber sie wollten nun endlich wissen, was passiert ist und wann es endlich weitergehen würde. Noch hatten die beiden Verantwortlichen keine Erklärung für die Panne gefunden. Nach und nach stiegen die Fahrgäste aus, um sich das Dilemma anzusehen. Erschrocken betrachteten sie den total schief stehenden Bus. Die Antriebswelle, die vom Frontmotor zur Hinterachse reicht, lag öltropfend unter dem Bus. Die Hinterräder hingen nur noch an wenigen Schrauben. Auf dem Asphalt bildete sich eine große schwarze Öllache. Die linke Federung an der Hinterachse war zusammengebrochen und hatte dabei die Kardanwelle aus dem Getriebe gerissen. Es sah sehr schlimm aus.

Einige Liter Getriebeöl liefen auf die Straße. Eine Reparatur vor Ort war unmöglich und so bemühte man sich eine andere Lösung zu finden. Der Schaffner lief zu dem nahegelegenen Gasthof und orderte telefonisch einen Ersatzbus. Viele Fahrgäste hatten Ideen, wie man den Bus wieder flott kriegt. Der Bauer Johannes Schulte-Kletthaus aus Uelzen sagte zu den Umherstehenden: „Habe sowas auch schon mal an meinem Trecker gehabt, das ist halb so wild, das kann man schnell flicken!“ In diesem Moment sackte der Bus noch etwas nach. Erschrocken sprangen die nahestehenden Menschen ein Stück zurück und die Frau des Bauer aus Uelzen kreischte:

„Ach Gott, was hätte da alles passieren können, mit dem Bus fahre ich nicht mehr!“ Die Gedanken in den Köpfen von Günther Mertens und Manfred Lülf kreisten nicht um diese unangenehme Panne, sondern vielmehr darum, wie die in Hemer das Zuspätkommen wohl aufnehmen werden. Ungeduldig sah Günther auf seine Armbanduhr. Glaubt man uns die Panne? Geschlagene zwei Stunden hat es gedauert, als der Ersatzbus der Iserlohner Kreisbahn eintraf. Dem Bauer aus Uelzen und seiner Frau war das egal, sie hatten heute nichts mehr vor, aber Mertens und Lülf saßen wie auf heißen Kohlen. Das ungemütliche Wetter sorgte dafür, dass sie noch vor dem Eintreffen in Hemer schweißgebadet waren. Und Günther schaute schon wieder auf seine Armbanduhr.

Von der Haltestelle in Hemer hatten sie noch etwa 400 Meter zu laufen und entsprechend aufgeheizt meldeten sie sich beim Wachhabenden und übergaben ihre Papiere. Der schaute auf die Papiere und dann auf die Ankömmlinge. Sein Gesicht verformte sich zu einer Mimik, die wohl nur Pförtner oder Wachhabende so zustande bringen können, nämlich total gelangweilt und doof gucken. Die beiden ahnten, dass die Grimasse wohl nichts Gutes zu bedeuten hatte. Auf dem Einberufungsbescheid stand zwar nur ein Datum und keine Uhrzeit, aber 18:00 Uhr war definitiv zu spät, das ging ja schon eher in Richtung Feierabend. Günther Mertens ergriff vorsichtig das Wort, um die Anspannung ein wenig zu lockern und sagte höflich, aber dafür völlig unmilitärisch:
Der Eingang in eine fremde Welt
"Sie müssen bitte entschuldigen, dass wir erst jetzt kommen, aber unser Bus hatte einen Achsenbruch am Bismarckturm, wo geht es denn bitte zur Ausbildungskompanie 3/7?"

Der Wachhabende schaute ihn ungläubig mit halboffenen Mund an, als hätte Günther ihm einen unsittlichen Antrag gemacht. Dann holte er ganz tief Luft und brüllte los: „Was denn, was meinen Sie mit entschuldigen? Sie sind hier nicht bei der Gewerkschaft! Ihr Typen seid viel zu spät dran, haut bloß ab. Da vorne links und danach geradeaus, da steht die Musikkapelle für euch bereit und ein roter Teppich ist auch ausgerollt......maaaan was seid ihr für Hornochsen!“
Sie gingen in die angewiesene Richtung und hörten schon von weitem angsterregendes Gebrüll mit Trillerpfeifen Untermalung. Als sie näher kamen, sahen sie, dass die Kompanie bereits in grauen Uniformen angetreten war. Plötzlich schrie jemand auf den Haufen ein. Die gesamte Meute spritzte auseinander und nach einem weiteren lauten Befehl, standen, wie von Zauberhand gemacht, alle Soldaten wieder genauso wie vorher.   
Nun standen wir da, nachdem uns unsere zukünftigen Ausbilder zu ihrem reinen Vergnügen wie eine Hammelherde hin und her gejagt hatten. Egal wo wir hin mussten, um zum Beispiel Kleidung entgegenzu-nehmen, standen sie auf Treppen und Fluren und schrien wie die Geisteskranken auf die Neuankömmlinge ein: "Schneller, das muss schneller gehen, ich will nur Hacken sehen!" So in der Art ging es bis alle eingekleidet waren. 
Zur Belohnung durften wir uns ansehen, zu welch einer tollen Truppe wir gekommen sind. Dass wir später mangels vorhandener Gerätschaften unsere Unimogs mit Spanplatten verkleiden mussten, um einen halbwegs kriegerischen Eindruck zu erwecken, davon hat keiner gesprochen. Es ging der Spruch um: "Die Bundeswehr ist dafür da, den Feind so lange aufzuhalten, bis Soldaten kommen." Wir waren auch fest davon überzeugt.

Den Befehl: In Reih und Glied auszuführen, klappte bei den Frischlingen noch nicht und die Schreihälse zeigten dafür kein Verständnis, im Gegenteil, je schlechter es lief, umso lauter krakelten sie herum und umso deftiger wurden ihre Ausdrücke und deshalb wurde hier fleißig geübt. Die Kapos waren wie Wölfe, die auf eine Schafherde losgingen und die graue Masse aus Uniformen schwappte hin und her. Dann stand sie plötzlich wieder ganz still in Hufeisenform und dann mal wieder in Marschordnung. Eigentlich eine tolle Choreografie, nur die Musik und eine Wasserfontäne fehlte dazu und alles wäre perfekt gewesen.

Der Spieß hatte schon kundgetan, dass noch zwei Wehrpflichtige fehlen und rief noch einmal die Namen in die Runde. Keiner meldete sich. Beim Befehl: „Die Augeeeen links“ erblickte ich zwei traurige Gestalten mit kleinem Gepäck den Weg zum Kompaniegebäude hochschleichen. Es war klar, dass jetzt wieder ein besonderes Schauspiel folgte. In dem Moment empfand ich kein Mitleid, denn wenn die sich nicht an die Zeiten halten können, sind sie selbst schuld, wenn sie jetzt einen auf den Deckel bekommen‘ Das alles ganz anders war, konnte ich nicht ahnen.

Und jetzt wurden die beiden Nachzügler Lülf und Mertens auch von den Ausbildern gesichtet. Als sähe er das siebte Weltwunder, baute sich der Spieß Oberfeldwebel Werney vor den beiden auf, wippte ein wenig vor und zurück, dabei machte ein äußerst interessiertes Gesicht. Mit der rechten Hand zog er sein Notizbuch aus seiner Uniformjacke. Er hatte immer den zweitobersten Jackenknopf offen und schob da sein Notizbuch rein. Wenn er einen Soldaten erwischte, der sich nicht so verhalten hat, wie es die Dienstvorschrift verlangte, machte er einen Eintrag. Seinen Bleistift trug er im Dienst immer hinter dem linken Ohr. Erst wenn er am Tag etwa 10 Rekruten aufgeschrieben hatte, war er zufrieden.

Wie ein Ober aus einem Wiener Caféhaus, begrüßte Werney die beiden Nachzügler: „Einen recht schönen guten Tag die Herren, sie sind bestimmt der Herr Günther Mertens und sie der Herr Manfred Lülf?“ Die beiden nickten brav mit dem Kopf und dachten, der ist ja ganz nett. „Darf ich die beiden Herren höflichst fragen, ob sie eine gute Fahrt hatten und sicherlich hatte der Zug Verspätung oder der gleichen?“ Wirklich nette Leute hier dachte Günther und antwortete auf dem gleichen Freundlichkeitslevel dem netten Herrn in Uniform. Leider kannte er noch keine Dienstgrade und namentlich wurden sie sich noch nicht vorgestellt:

"Danke der Nachfrage Herr...? Ich habe leider Ihren Namen nicht verstanden? Unser Bus hatte am Bismarckturm einen Achsenbruch und deshalb kommen wir leider erst jetzt."

Werney lief vom Hals an rot an. Er wollte etwas sagen aber auf seinen Lippen bildete sich weißer Schaum und seine Stimme klang heiser und dünn. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich wieder im Griff hatte: „Sosooo..., Sie kennen meinen Namen nicht und Achsenbruch hatten Sie auch Sie Panzerleiche. Sind wohl von allen guten Geistern verlassen? Noch nicht ganz da, und lügt schon schneller als ein Pferd läuft. Ihre Namen werde ich mir merken." Er holte ganz tief Luft und brüllte weiter: „Mensch, das mit dem Achsenbruch hätten Sie doch vorher wissen müssen – warum haben Sie nicht den Bus früher genommen?" Irgendwie logisch aber Günther war kein Hellseher. Werney brüllte weiter: "Hoffentlich sind Sie bald im Kompaniegebäude und besorgen sich Uniformen, damit sie als Mensch zu erkennen sind, lila ist hier nicht besonders gefragt!“ Inzwischen war Günthers lila Oberhemd so dermaßen schweißdurchtränkt, dass es tropfte und er fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut. Sie schlenderten wie zwei Sommerfrischler mit ihrem Gepäck zum Kompaniegebäude und dummerweise gab gleichzeitig der Spieß den Befehl: „Kompanie weggetreten auf die Stuben, marsch, marsch!“ Hinter ihnen starteten auf dem Befehl vom Spieß 124 Soldaten in die gleiche Richtung. Die bereits Uniformierten hatten schon verinnerlicht, dass es hier nur einen Gang gab, den Laufschritt. So kam es, was kommen musste. Die beiden Neuen wurden von der grauen Masse überrollt. Hin und wieder sah man aus der Masse das lila Hemd aufblitzen. Mit der Wucht einer Nordseewelle wurden die beiden Zivillisten die Treppe am Haupteingang hochgespült und direkt in die Arme von Stabsunteroffizier Heinrichs. Der fletschte die Zähne und brüllte los: „Man glaubt es nicht, Zivilisten noch um diese Uhrzeit. Wohl verpennt heute Morgen. Jetzt aber los, eine Etage tiefer Klamotten abholen, Euch Typen sollte man ausstopfen“ Günther: „Ja aber wir müssen noch unsere zivilen Sachen in den Spind legen.“ Heinrichs: „Kaum hier und schon dicke Lippe riskieren und Widerworte geben. Euch behalte ich im Auge!“ Heinrichs wurde von einem sehr schwungvollen großen jungen  Mann, von den Beinen gerissen und klammerte sich auf der Treppe sitzend an dem Treppengeländer fest.

Gute Gelegenheit für die beiden, zu verduften. Als er wieder auf den Beinen war, nahm er seine Trillerpfeife und
versuchte mit seiner letzten Puste, die beiden zurückzupfeifen. Die Trillerpfeifen waren einfach eklig,  das Geräusch ging durch Mark Bein. Sie waren der Verzweiflung nahe: „Welches Stockwerk war es denn noch und welche Stubennummer hatten wir eigentlich?“ Von diesem Menschenstrudel wurden die beiden Soldaten in Zivil wieder in eine andere Richtung getrieben als sie wollten. So suchten sie noch eine Weile verzweifelt ihre Stube, um das kleine Gepäck loszuwerden. Dann wollten sie schnell in die Kleiderkammer, um die Erstausstattung an Uniform und Ausrüstung zu empfangen. Sie liefen kopflos durch die Flure, eilten Treppen rauf und wieder runter und dabei verloren sie sich für diesen Tag aus den Augen. Irgendwo oben angekommen brüllte ein Kapo (in der Soldatensprache ein Unteroffizier): „Was wollt ihr Zivilisten denn noch hier, zur Kleiderkammer geht es nach ganz unten. Haltet keine Maulaffen feil, verpisst euch ihr Panzerleichen und das Ganze ziemlich zügig!“ Unten angekommen schrie ein Kapo mit auffällig krummen Beinen: „He, sie da mit dem lila Tangohemd, zur Kleiderkammer ein Stock höher!“ Günther mit seinem lila Freizeithemd war wieder an der Eingangstür angelangt wurde gleich wieder angeschrien: „Sie sollen doch nach oben, los marsch, aber schnell!“ Also lief Günther wieder hinauf. Oben angekommen fragte ihn ein uralter Kapo grob: “Welche Stube?“ „Ja, welche Stube, fragnse doch!“ „Ich frage doch.“ „Nu wernse mal nicht pampig Jüngelchen. Runter sach ich – frangse unten noch ma nach!“ „Wen denn?“ „Wen denn, das müssense selba wissen!“ Günther lief also wieder die Treppen hinunter und kämpfte gegen die graue Masse von Rekruten an, die in die entgegengesetzte Richtung schwappte. Und überall wimmelte es an Ausbildern, die nur ein Ziel hatte, die Neuen mal richtig aufzumischen, sie weich zu klopfen. Sie brüllten beispielsweise: „Beim Treppenlaufen müssen Sie waagerecht in der Luft liegen!“ „Mein Opa hat ein Holzbein und der ist schneller als sie Pfeife!“ Er holte noch einmal aus: „Ihnen machen wir noch Beine!“ Günther dachte: “So ein Blödsinn, ich habe doch schon Beine!“ „Sie sollten mal abnehmen, bewegen Sie ihren dicken Arsch etwas schneller!“ Günther schaute ihn verdattert an und setzte zur Frage an: “Ich such…“ „Mann Sie geistiger Tiefflieger, sie müssen doch wissen, wo Sie hinwollen!“ „Los, jetzt aber Tempo, und zack, zack, ich will nur noch ihre Hacken sehen. Ich glaube, mein Schwein pfeift!“

Mit ihren simplen Methode hatten sie uns zunächst einmal gewaltig erschreckt. Aber sehr lange hielt unsere Schockstarre nicht an. Nach zwei Wochen hatten wir schon einen einigermaßen guten Durchblick und allmählich trauten wir uns aus der passiven Haltung heraus und wurden aktiv, wenn es denn sein musste. Sie hatten unser Ego angeknackst und wir fühlten uns von Mal zu Mal wohler, wenn wir es ihnen heimzahlen konnten, ohne dass sie es merkten. Nicht durch offene Revolution, sondern eher durch überlegene Intelligenz. Wenn die Kapos eine Gemeinheit gegen einen von uns angeordnet hat, drehten wir die Dinge so, dass die Typen glücklich einschlafen konnten, mit der Gewissheit: „Dem habe ich es mal wieder richtig gegeben!“ Zum besseren Verständnis erzähle ich später noch die Geschichte von Walter Koschinski. Ein sehr treffendes Beispiel. In den letzten 3 Wochen waren wir perfekt und die Geier griffen nur noch die Wehrpflichtigen an, die geistig nicht so ganz beweglich waren. Die meisten davon waren aber auch Schmerz-resistent und hielten die Widerwärtigkeit gleichgültig aus. Einer sagte einmal zu mir: "Es ist wie es ist, und Punkt!"

Günther hatte immer noch sein lilafarbenes Zivilhemd an und es war inzwischen völlig durchnässt. Dadurch hatte es eine tiefdunkle Tönung angenommen und passte nun aber farblich viel besser zu seiner Cordhose. Übrigens: Dieses Hemd liegt als Erinnerungsstück noch heute in seinem Kleiderschrank. So wie bei Bruce Low das Pferdehalfter an der Wand hing.  

Damit es uns nie langweilig wurde, sorgten die Kapos mit allerlei Kurzweil für abwechslungsreiche Stunden. Zum Beispiel den Zugführer vom 3. Zug Oberfeldwebel Egbert Gruschel: „Wer kann Schreibmaschine schreiben?“ Wahrheitsgetreu meldete sich Günther in der Hoffnung irgendwelche Berichte tippen zu müssen, um dafür einige Stunden dem Drill aus dem Wege zu gehen. Aber die Antwort fiel anders aus als erwartet. „Prima Voraussetzungen Mertens, dann dürfen Sie heute Abend meine Stiefel putzen!“ Es war, als wären wir auf einem anderen Planeten gelandet: Alle Menschen tragen oliv und sehen gleich aus. Ausschlafen, in Ruhe essen, diskutieren – war nicht. Überall dieses Geschrei: Befehl war Befehl! Wir erlebten eine große Umstellung gegenüber unserem zivilen Leben. Sich beschweren? Der Weg war gut eingerichtet. Schriftliche Eingaben durften nur an die nächsten Vorgesetzten gerichtet werden und waren somit etwas für die Mülltonne. Das war so, als ob wir uns bei dem Hund beschweren mussten, der uns gebissen hat. Die Gefahr war dann groß, ein zweites Mal gebissen zu werden oder auch noch öfter. 

Morgen für Morgen antreten zur Befehlsausgabe.


Ich hatte das Pech, genau im Blickfeld der Protagonisten zu stehen. Meinen Leidensgenossen Günter Eickmann und Peter Grabs, die direkt neben mir standen, ging es ebenso. Weil jeder von uns genau 180 cm groß war, hat man uns für drei Monate der Kompaniezugehörigkeit feste Plätze innerhalb der zweiten Kompanie zugewiesen, also immer nebeneinander. Kreaturen aus Fleisch und Blut neigen dazu, gute und schlechte Tage zu haben.


An guten Tagen, an denen man sich wohlfühlte,  ging man besonders aufrecht und mit stolz geschwellter Brust und war vielleicht 181 cm groß, während ein anderer, von dem sich gerade seine Freundin getrennt hatte, in sich gesunken nur noch 179 cm an Körpergröße zu bieten hatte. Also bot unser Dreigestirn beinahe täglich den Ausbildern ein abweichendes Bild von ihrer Vorstellung der militärischen Ordnung.



Es kam vor, dass der Stuffz. der uns am Abend neu eingeordnet hat, beim Morgenappell auf uns zugeschossen kam und die Frage äußerte: "Wer hat euch Idioten denn so hingestellt?" Wir wußten das er es war, aber aus verständlichen Gründen hielten wir den Mund. 




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